Mit ihrem schillernden Ruf als „sündigste Meile der Welt“ zieht die Reeperbahn in Hamburg seit Generationen Besucher in ihren Bann. Diese 930 Meter lange Straße im Herzen von St. Pauli verkörpert wie kaum ein anderer Ort die Dualität zwischen Vergnügen und Verruchtem, zwischen kulturellem Höhenflug und Rotlichtambiente. Vom Millerntor im Osten bis zum Nobistor im Westen erstreckt sich ein Mikrokosmos, der die Geschichte Hamburgs auf einzigartige Weise widerspiegelt.
- Vom Handwerk zum Vergnügungsviertel
- Zwischen den Welten: Die strategische Lage
- Transformation und Aufstieg zum Amüsierviertel
- Düstere Jahre: Die Reeperbahn unter dem Hakenkreuz
- Musikalische Revolution: Die Beatles und der Aufbruch
- Der Musicalboom: Kulturelle Neuausrichtung
- Die moderne Reeperbahn: Ein Schmelztiegel der Kontraste
- Kulturveranstaltungen auf der Reeperbahn
- Sicherheitsaspekte und praktische Hinweise
- Verkehrsanbindung und Anreise
- Transformation und Zukunftsperspektiven
- Die Reeperbahn hautnah erleben: Geführte Entdeckungstouren
Vom Handwerk zum Vergnügungsviertel
Der ungewöhnliche Name der Reeperbahn wurzelt tief im maritimen Handwerk. „Reep“ bezeichnet im Niederdeutschen ein Seil, und die „Reepschläger“ waren Handwerker, die Taue für die Schifffahrt herstellten. Für ihr Handwerk benötigten sie ausgedehnte, schnurgerade Bahnen, auf denen die Fasern zu Seilen gedreht werden konnten. Mit dem Wachstum der Segelschifffahrt im 17. Jahrhundert wuchsen auch die Anforderungen an das Tauwerk – die Handwerker siedelten sich daher zwischen 1626 und 1883 vor den Toren der Stadt an, wo sie genügend Platz für ihre langen Bahnen fanden.
Während auf der benachbarten Seilerstraße Seile mittlerer Länge produziert wurden, entstanden auf der deutlich ausgedehnteren Reeperbahn Taue von beeindruckender Dimension, teilweise bis zu tausend Meter lang. Eine Hamburg-Karte aus dem Jahr 1791 dokumentiert das Handwerkerviertel als „Reepschläger Bahn“ mit dazugehörigen Hütten westlich der Stadtbefestigung.
Zwischen den Welten: Die strategische Lage
Die besondere Anziehungskraft der Reeperbahn liegt nicht zuletzt in ihrer historischen Zwischenstellung begründet. Das Gebiet befand sich präzise auf der Grenze zwischen Hamburg und Altona – zwei Städte mit unterschiedlichen Rechtssystemen und Obrigkeiten. Diese geografische Besonderheit machte die Zone zu einem Sammelbecken für Menschen und Gewerbe, die andernorts nicht geduldet wurden, hier jedoch in relativer Freiheit existieren konnten.
Die gesamte Region, einst als „Hamburger Berg“ bekannt, lag auf einer Anhöhe vor den eigentlichen Stadtmauern – daher sagt man bis heute auch „auf St. Pauli“. Erst 1833 kam das Gebiet vollständig unter Hamburger Verwaltung und erhielt seinen Namen nach der örtlichen St. Pauli Kirche am Pinnasberg. Während der napoleonischen Besatzung wurden die charakteristischen Hügel abgetragen, um freies Schussfeld für militärische Zwecke zu schaffen.
Transformation und Aufstieg zum Amüsierviertel
Die Metamorphose der Reeperbahn vom Handwerkerviertel zur Vergnügungsmeile vollzog sich schrittweise. Die ersten Wohngebäude entstanden 1826/27 als schmucke Häuserreihe auf der Nordseite zwischen Millerntor und Hamburger Berg. Ein Meilenstein war die Gründung des St. Pauli Theaters im Jahr 1841, das als älteste Bühne Hamburgs bis heute besteht.
Ab 1860 begannen Vergnügungsstätten wie Bierhallen und Ballhäuser das Straßenbild zu prägen. Die städtebauliche Entwicklung setzte sich fort: In den 1880er Jahren wurden Querstraßen angelegt, 1899 integrierte man die angrenzende Lange Reihe in den Straßenzug. Das frühe 20. Jahrhundert brachte Kinos, in den 1920ern folgten charaktervolle Etablissements wie das Zillertal, das Varieté Alkazar und das Tanzlokal Café Heinze (später Café Keese). Die 1960er Jahre schließlich sahen die Entstehung großer Bordellbetriebe wie das Eros-Center.
Die Nähe zum Hamburger Hafen spielte bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle. Die täglich ankommenden Seeleute auf der Suche nach Zerstreuung bildeten eine verlässliche Kundschaft für die wachsende Unterhaltungsbranche – eine Konstellation, die neben hochwertigen Kulturangeboten wie der Volksoper auch Animierlokale und Vergnügungsstätten zweifelhaften Rufs florieren ließ.
Düstere Jahre: Die Reeperbahn unter dem Hakenkreuz
Die nationalsozialistische Herrschaft markierte einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Viertels. Das kosmopolitische St. Pauli, mit seinem einzigen Chinatown Deutschlands und zahlreichen ausländischen Bewohnern, erfuhr brutale „Säuberungen“ – Ausländer wurden vertrieben oder deportiert, die vielfältige Vergnügungskultur weitgehend ausgelöscht. Einzig die Prostitution in der Herbertstraße blieb geduldet, jedoch hinter Sichtschutzwänden verborgen, die an beiden Zugängen errichtet wurden und bis heute existieren – ein Monument der Doppelmoral jener Zeit.
Musikalische Revolution: Die Beatles und der Aufbruch
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entfaltete sich auf der Reeperbahn eine bemerkenswerte musikalische Strahlkraft. Das Viertel entwickelte sich zum Einfallstor für innovative Klänge aus Großbritannien und den USA. Der Wendepunkt kam Anfang der 1960er Jahre, als vier junge Musiker aus Liverpool ihre ersten bedeutsamen Auftritte in den Clubs entlang der Großen Freiheit absolvierten – die Beatles.
Lokale wie der „Star-Club“, „Kaiserkeller“, „Top Ten Club“ und „Indra“ wurden zu Brutstätten einer musikalischen Revolution, die von Hamburg aus die Welt erobern sollte. Diese historische Verbindung wird heute durch den Beatles-Platz gewürdigt, wo metallene Silhouetten an die „Fab Four“ erinnern. Zahlreiche Etablissements, in denen John, Paul, George und Ringo ihre frühen Auftritte absolvierten, sind noch immer Teil der pulsierenden Musikszene im Viertel.
Der Musicalboom: Kulturelle Neuausrichtung
Eine zweite kulturelle Revolution erlebte die Reeperbahn in den 1980er Jahren, als Andrew Lloyd Webbers „Cats“ im Operettenhaus seine deutsche Premiere feierte. Diese Aufführung löste einen beispiellosen Musicalboom aus und etablierte Hamburg als führende Musicalmetropole Deutschlands. Das Operettenhaus wurde zur Keimzelle weiterer Erfolgsproduktionen: „Mamma Mia!“ (2002-2007), „Ich war noch niemals in New York“ (2007), „Sister Act“ (2010), „Rocky – fight from the heart“ (2012) und „Hinterm Horizont“ mit dem musikalischen Repertoire von Udo Lindenberg (2016-2017).
Dieser kulturelle Aufschwung transformierte insbesondere den Spielbudenplatz, der sich vom verrufenen Areal zum Theaterviertel wandelte. Neben dem Operettenhaus und dem etablierten St. Pauli Theater entstanden weitere Kulturstätten wie Schmidts Tivoli und das Imperial Theater – eine Entwicklung, die das Image des gesamten Viertels nachhaltig veränderte.
Die moderne Reeperbahn: Ein Schmelztiegel der Kontraste
Heute präsentiert sich die Reeperbahn als facettenreiches Kaleidoskop urbaner Subkulturen. Von den grellen Neonlichtern der Clubs bis zu den ehrwürdigen Theaterhäusern, von traditionellen Kneipen bis zu avantgardistischen Musikbühnen – die von Udo Lindenberg prägnant als „geile Meile“ titulierte Straße vereint Gegensätze in faszinierenden Symbiosen.
Bei Einbruch der Dunkelheit entfaltet sich eine elektrisierend-surreale Atmosphäre. Etablissements wie das Moondoo und NOHO locken mit zeitgemäßen Clubkonzepten, während Veranstaltungsorte wie das wiederbelebte Mojo und das Molotow sowohl Newcomern als auch etablierten Größen der Musikszene eine Bühne bieten. Ikonische Kneipen wie „Zur Ritze“ mit ihrem legendären Boxkeller oder der „Silbersack“ stehen exemplarisch für das traditionsbewusste Element der Straße.
Die Sehenswürdigkeiten entlang der Reeperbahn bilden ein erstaunliches Potpourri: Die Davidwache als berühmteste Polizeiwache Deutschlands, Deutschlands ältestes Wachsfigurenkabinett Panoptikum, renommierte Theatereinrichtungen und das maritime Flair auf den Landungsbrücken. Parallel zur Hauptstraße verläuft die berüchtigte Herbertstraße, die nur durch Sichtblenden hindurch betreten werden kann und ausschließlich Erwachsenen zugänglich ist. Etablierte Erotikbetriebe wie Susis Show Bar, das Dollhouse oder der Club de Sade, Europas ältester SM-Klub aus den 1960er Jahren, repräsentieren die freizügige Seite des Viertels.
Ein charakteristisches Element der Reeperbahn-Folklore sind die sogenannten „Koberer“ – meist ältere Herren, die mit markanten Sprüchen Passanten für Stripshows und Tabledance-Darbietungen zu gewinnen suchen. Diese hanseatische Tradition des „Ankoberns“ gehört zum authentischen Erlebnis der Straße wie das salzige Aroma der nahen Elbe, stirbt aber immer mehr aus. Einer der heute bekanntesten Koberer ist inzwischen auch einer der bekanntesten Tour-Guides und Mitglieder der Olivia Jones Familie: Fabian Zahrt, auch bekannt als „der zahrte Fabian“.
Kulturveranstaltungen auf der Reeperbahn
Seit 2006 hat sich das Reeperbahn Festival als kulturelles Highlight etabliert. Jedes Jahr im September verwandelt sich das gesamte Viertel in eine gigantische Konzertbühne mit mehr als 600 Aufführungen an über 90 Veranstaltungsorten. Sowohl vielversprechende Neuentdeckungen als auch renommierte Künstler tragen zum internationalen Ruf des Festivals bei.
Weitere regelmäßige Großveranstaltungen wie der farbenfrohe Schlagermove im Juli und die rauschenden Harley Days unterstreichen die Bedeutung der Reeperbahn als pulsierende Eventlocation mit breiter kultureller Strahlkraft.
In der Streetart- und Kunstszene ist inzwischen die jährlich zugunsten des Vereins „Viva con Agua“ stattfindende Millerntor Gallery im Stadion des FC St. Pauli eine feste Größe.
Sicherheitsaspekte und praktische Hinweise
Die hohe Besucherfrequenz und der Ausschankbetrieb haben über die Jahre zu spezifischen Sicherheitsmaßnahmen geführt. 2007 wurde ein umfassendes Waffenverbot für die Reeperbahn und ihre Nebenstraßen erlassen. 2009 folgte das sogenannte Glasflaschenverbotsgesetz, das das Mitführen und den Verkauf von Glasflaschen und Gläsern in den Wochenendnächten (Freitag 22:00 Uhr bis Montag 6:00 Uhr) sowie vor Feiertagen untersagt. Gelbe Warnschilder markieren die Verbotszonen, und Zuwiderhandlungen können mit Bußgeldern bis zu 5.000 Euro geahndet werden.
Trotz ihres schillernden Rufs gilt die Reeperbahn bei Beachtung grundlegender Vorsichtsmaßnahmen nicht als überdurchschnittlich gefährliches Pflaster. St. Pauli kultiviert ein Selbstverständnis, das auf Offenheit, Toleranz und gegenseitigem Respekt basiert.
Entgegen mancher Vorurteile ist die Reeperbahn ein öffentlicher Raum ohne Altersbeschränkungen. St. Pauli stellt für Menschen aller Generationen einen gewöhnlichen Wohn- und Lebensraum dar, wenngleich bestimmte Etablissements mit erotischem oder anderweitig spezialisiertem Angebot ausschließlich erwachsenes Publikum ansprechen.
Anders als in vielen Städten existiert in St. Pauli keine verbindliche Sperrstunde – besonders an Wochenenden pulsiert das Nachtleben bis in die frühen Morgenstunden. Alkoholkonsum im öffentlichen Raum ist grundsätzlich gestattet, unterliegt jedoch den erwähnten Einschränkungen bezüglich Glasbehältnissen.
Verkehrsanbindung und Anreise
Verkehrstechnisch fungiert die Reeperbahn ostwärts als Zubringer zur Bundesstraße 4 über die Ludwig-Erhard-Straße und Willy-Brandt-Straße. In westlicher Richtung setzt sie sich ab der Kreuzung Holstenstraße/Pepermölenbek als Königstraße fort und führt nach Altona-Altstadt.
Für Besucher bietet die öffentliche Verkehrsinfrastruktur optimale Verbindungen: Zwei Bushaltestellen (S-Reeperbahn und Davidstraße) liegen direkt an der Straße, eine weitere am östlichen Millerntorplatz beim U-Bahnhof St. Pauli (Linie U3). Am westlichen Ende befindet sich die unterirdische S-Bahn-Station Reeperbahn, die von den Linien S1 und S3 bedient wird und über mehrere Ausgänge zur Talstraße/Silbersackstraße sowie zur Kreuzung Königstraße/Nobistor/Pepermölenbek verfügt.
Insbesondere an hochfrequentierten Wochenenden und bei Großveranstaltungen empfiehlt sich die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Alternativ kann man auch bis zur Haltestelle Landungsbrücken fahren und den moderaten Anstieg zur Reeperbahn zu Fuß bewältigen.
Transformation und Zukunftsperspektiven
Im Laufe der Jahrzehnte hat die Reeperbahn zahlreiche Metamorphosen durchlaufen. Die ehemals verrufene „sündige Meile“ hat sich zu einem vielschichtigen Stadtviertel entwickelt, in dem konventionelle Hotelbetriebe und gehobene Gastronomie mittlerweile stärker vertreten sind als die traditionellen Etablissements des Rotlichtmilieus.
2011 initiierte die Interessengemeinschaft St. Pauli einen Vorstoß, die Reeperbahn zu einem „Business Improvement District“ (BID) umzugestalten – mit dem Ziel, die Sauberkeit zu verbessern und das Erscheinungsbild aufzuwerten.
Die COVID-19-Pandemie brachte im Frühjahr 2020 das pulsierende Leben auf der Reeperbahn zeitweilig zum Erliegen. Nach der sukzessiven Aufhebung der Beschränkungen im Mai 2022 kehrte das charakteristische Treiben jedoch in erstaunlicher Geschwindigkeit zurück – ein Beleg für die Resilienz und Anpassungsfähigkeit dieses einzigartigen Stadtviertels.
Ungeachtet aller Veränderungen bleibt die Reeperbahn ein unverzichtbares Element der Hamburger Stadtidentität – ein Ort, der internationale Besucher magisch anzieht und die komplexe, manchmal widersprüchliche Geschichte der Hansestadt in komprimierter Form erzählt.
Die Reeperbahn hautnah erleben: Geführte Entdeckungstouren
Für Besucher, die das authentische St. Pauli abseits der touristischen Oberfläche kennenlernen möchten, bieten sich die legendären Kult-Kieztouren an. Unter den zahlreichen Anbietern haben sich besonders diese Führungen rund um die Mitglieder der legenbdären Olivia Jones einen Namen gemacht. Die sagenumwobenen Geschichten der Reeperbahn und ihrer prägenden Persönlichkeiten werden dabei von echten Kennern des Viertels präsentiert, die Besucher zu historischen Schauplätzen und verborgenen Winkeln begleiten.
Das Erfolgsrezept dieser Touren liegt in der Kombination aus bewährter Route und individuellen Einblicken. Obwohl die grundlegenden Stationen bei den verschiedenen Guides der bunten Olivia-Jones-Familie ähnlich sind – darunter Persönlichkeiten wie Fabian Zahrt, Eddy Kante, Veuve Noire, Dennis Schmidt, Lex Dildo, Vanity Trash, Olli Zeriadtke, Barbie Stupid, Lee Jackson, Fanny Funtastic, Willi Wedel und Eva Decker – macht jeder Tourguide die Erkundung zu einem einzigartigen Erlebnis durch persönliche Erfahrungen und individuelle Perspektiven auf das Viertel.
Ein besonderer Mehrwert dieser Führungen sind die exklusiven Einblicke in außergewöhnliche Örtlichkeiten, die regulären Besuchern verschlossen bleiben – darunter ein SM-Keller, ein Ausstellungsraum für Sexpuppen, Olivias Kostümfundus und ein eigens eingerichteter Kulturraum am Albersplatz. Die Führungen enden traditionell in der Großen Freiheit vor einer der Bars oder Clubs aus dem Olivia-Jones-Imperium, wo die Teilnehmer nach Wunsch und Verfügbarkeit mit ihrem Guide das Erlebnis bei einem Abschiedsselfie feiern und ausklingen lassen können.
Diese Touren vermitteln lebendige Eindrücke von den Menschen und Orten, die das heutige Gesicht der Reeperbahn prägen, und bieten authentische Erzählungen direkt von denjenigen, die die Geschichte des Viertels aus erster Hand kennen.